01.09.06

Axel Scherm

Digitale Bevormundung oder
warum Dr. H. die Anweisungen der Navigations-Tusse nicht befolgt

Anscheinend möchten Sie einen Brief schreiben. Brauchen Sie Hilfe?
Ich hasse es, wenn sich die personifizierte Microsoft-Büroklammer mit hochgezogenen Augenbrauen meistergeschäftig in meinen Schreibvorgang einmischt. Ich klicke sie immer sofort weg, auch wenn ich mit ihrer Hilfe wahrscheinlich viel schneller einen Brief schreiben würde. Aber meistens will ich ja überhaupt keinen Brief schreiben.
Kaum habe ich ein paar Zeilen getippt, unterkringelt der offenbar unsichtbare, aber nicht minder neunmalkluge Bruder der Büroklammer mit grüner Farbe zahlreiche Textstellen, um mir lehrmeisterlich mitzuteilen: Groß- und Kleinschreibung. Falls es sich hier um ein Substantiv handelt, schreiben Sie es groß. Außerdem erkennt er diverse Kongruenzen bei der Anordnung von Subjekt und Prädikat sowie bei der Flexionsform (was immer das auch sein mag) und fordert mich auf, dies unverzüglich zu überprüfen. Zum Schluss noch die infame Unterstellung: Unvollständiger Satz. Kontrollieren Sie auf ein fehlendes Hilfsverb hin.

Im Internet erfrecht sich der Megaschnüffler Google immer häufiger, mich zu fragen, ob ich nicht was anderes meinte, als das, was ich da eingegeben hätte. Blöderweise steht die Option, nein, ich meine genau das, was ich eingegeben habe und du brauchst auch nicht mehr nachzufragen, nicht zur Verfügung. Gott, wie oft hätte ich diesen Button schon gedrückt!
In den meisten Autos nervt ein Piepton so lange, bis man endlich angeschnallt ist.
Ich kaufe jetzt absichtlich schon ältere Autos, weil sie weniger Computertechnik an Bord haben, und damit die Entscheidung, ob ich mich anschnalle, einzig und ausschließlich mir vorbehalten bleibt. Auch die Scheibe möchte ich nur dann gewischt bekommen, wenn es tatsächlich regnet und nicht dann, wenn ein fehlgeleiteter Feuchtigkeitssensor bei wolkenlosem Himmel den Wischer in einer Geschwindigkeit in Gang setzt, wie ich es manuell nicht einmal bei einem der in letzter Zeit stark in Mode gekommenen Starkregen tun würde.
Selbst vor Gegenständen des täglichen Bedarfs machen digitale Bevormundung und mehr oder weniger sinnvolle Hilfsfunktionen nicht halt. Mein neues Telefon zum Beispiel lässt sich sprachgesteuert programmieren und fragt mich doch tatsächlich, wenn ich nicht innerhalb einer gewissen Zeit antworte: Hallo, sind Sie noch da?
Ich antworte dann immer, ja ich bin noch da, was das Telefon wiederum zu der Stellungnahme veranlasst: diese Anweisung verstehe ich nicht. Wenn das Samuel Beckett noch hätte erleben dürfen!

Doch was kann man gegen diese Tyrannei der elektronischen Besserwisser tun? Soll man sie meiden? Soll man sie ausschalten? Sollte man vielleicht eine Selbsthilfegruppe gründen oder gar eine Bürgerinitiative?
Die perfideste Art mit diesem Phänomen umzugehen, hat mir neulich mein Chef, Dr. H. demonstriert. Geschickt verstand er es, archaisch begründetes Rollenverhalten mit der gebotenen Verweigerungshaltung zu verknüpfen, indem er auf der Heimfahrt von einer Geschäftsreise beflissentlich sämtliche Anweisungen der Navigations-Tusse ignorierte und zwar so lange, bis er sich unsäglich verfahren hatte. Auf meine Frage, warum er dies getan habe, antwortete Dr. H. schmunzelnd, aber mit dem Brustton der Überzeugung:
»Ab und zu muss ich einfach die Chance nutzen, die Anweisungen einer Frau zu missachten.«

Diese Kolumne finden Sie auch in Axel Scherms Ende 2010 erschienenem Buch »AxeAge – Das Printlog zum Weblog«.