Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Warum Musikwissenschaftler keine Radios reparieren können« vorgetragen von Kerstin Pollmann
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

25.07.01

Melanie Knapp

Warum Musikwissenschaftler keine Radios reparieren können

Illustration von Martin Rathscheck

Illustration von Martin Rathscheck

Neulich verstopfte ein kleines Blutgerinnsel die Lautsprecher meines Bass Boosters, weswegen sich alle Sender so anhörten, als würde man müde und erschöpft von schwerer Arbeit auf die Chaiselongue gleiten und eine brennende Ohrenkerze an sein Ohr halten. Sollten sich im Kreise derer, die diese Zeilen lesen, Personen befinden, denen die ohrenbetäubende Wirkung von Ohrenkerzen gänzlich fremd ist, so sei diesen der folgende Satz gewidmet, in dem die Geräuschkulisse von Ohrenkerzen weiter spezifiziert werden wird.

Ohrenkerzen dicht ans Ohr gehalten hören sich ungefähr so an, als würde man in einer Schwitzhütte sitzen und eine Schöpfkelle Wasser über die heißen Steine kippen, während die Weidenruten im Wind knarzen.

Schon reihen sich mehr und mehr in die Reihen der Verstehenden ein. Bei dem zurückbleibenden Häufchen Unwissender kann es sich nur noch um desinteressierte Individuen handeln, die ihren Blick niemals über die volkstümliche Bemalung ihres eigenen Tellerrands erheben. Menschen mit einem marginalen inneren Geräuschearchiv, die Wattestäbchen für den Gipfel der Zivilisation halten. Diese Menschen stellen sich bitte vor, sie fahren mit ihrem Golf auf der Autobahn, kurbeln die Fensterscheiben ein Stückchen runter und stellen ihr Autoradio auf Sendersuchlauf.

Jetzt, wo alle wieder mitlesen können, muss ich gestehen, dass ich nicht mehr weiß, warum ich wollte, dass sich alle vorstellen können, wie mein Bass Booster klingt, wenn er kaputt ist. In Versform sieht das so aus:

Jetzt, wo
ALLE
wieder mitlesen können, muss
ICH
gestehen, dass
ICH
nicht mehr weiß, warum
ICH
wollt', dass sich
ALLE
vorstellen können, wie
sich mein Radio anhört, wenn
es
KAPUTT
ist.

Das Gedicht trägt den Titel »im Arsch« und thematisiert die Relation zwischen Individuum und Kollektiv unter Bezug auf das zentrale Moment der Störung.

Vor seiner Erkrankung hörte sich mein Bass Booster, den ich normalerweise nicht »Radio« nenne, weil sich das naiv und irgendwie nach Gemüse anhört, irgendwie nach Gemüse an.

Entweder empfing er Musik, geschaffen, die akustische Intimsphäre des Zuhörers zu verletzen, oder Wortbeiträge, die besagten, dass irgendwann 50% der Deutschen über 50 sein werden. »Schön«, frohlockte ich, »da wird das musikalische Angebot ja bald überarbeitet werden.« Aber Essiggurke! Nach einem Monat wurde die Meldung ab- und durch griesgrämige Professoren ersetzt, die über den akademischen Nachwuchs klagten, wie Gärtner über schlecht gedeihende Zierpflänzlein. Mickrige Hahnenfußgewächse, die keine Blüten treiben und dem rauhen Klima außerhalb des Folientunnels niemals standhalten könnten!

Das ist natürlich unerträglich. Die Studenten, die in Erlangen gezüchtet werden, hören sich das gar nicht an und machen ihr Radio einfach selbst. Allerdings kann man es in Erlangen selbst nicht empfangen, sondern erst 20 Kilometer weiter. Macht aber nichts, die Studenten fahren ja alle Golf und das UniRadio sendet nur einmal in der Woche. An diesem Tag packen Hunderte Erlanger Studenten liebevoll ihr Radio in ein Reiseköfferchen, hängen ihm einen Fotoapparat um und rufen »Juhuu, wir machen einen Ausflug nach Nürnberg«. Der Nürnberger Burgberg am Mittwochabend gleicht einem Dorfberg in Rumänien bei der Fußball-WM 1984, nur dass statt Fernsehgeräten Radiogeräte die Straßen säumen und das Pflaster ab 24:00 Uhr von der Polizei geräumt wird, wegen den Anwohnern. Die Studenten lassen sich gerne räumen, weil das Programm des Uniradios ohnehin um 24 Uhr endet und dann wieder schauerliche Musik durch den Äther jagt. Nur ein paar altgewordene altachtundsechziger Anwohner stehen an den erleuchteten Fenstern ihrer stuckverzierten Altbauwohnungen und brüllen: »Als wir Studenten waren, da haben wir noch für unsere Rechte gekämpft.« Ihre pflegebedürftigen Mütter liegen im Hintergrund auf die Chaiselongue gebettet, schielen ängstlich auf den Lüster und geben irgendetwas der Art zu bedenken, dass es damals wahrscheinlich auch noch gar nicht erlaubt gewesen sei, feindliche Sender abzuhören. Was genau die alten Damen jedoch flüstern und ob sie dabei wirklich ausgerechnet den Anblick des Lüsters benötigen, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, denn ich selbst besitze weder Lüster noch Bass Booster, sondern eine Anlage mit Tuner und Kabelanschluss. Damit befinde ich mich in der privilegierten Lage, das UniRadio auch in Erlangen empfangen zu können. Als ich diesen Vorzug erstmals auskosten wollte, wurde der Genuss jedoch dadurch erschwert, dass sich im UniRadio ein staubtrockener Herr, vermutlich ein Dozent, über Studenten beklagte, die sich heutzutage kaum noch für die experimentelle Methodik der Kristallzüchtung interessierten. Auf die Frage, wie denn das möglich sei, wo doch auf der anderen Seite die Philosophische Fakultät vor Studierenden schon überlaufe, legte die akademische Weisheit dem mutmaßlichen Dozenten sinngemäß folgendes Zeugnis messerscharfer Urteilsfähigkeit in den Mund: »Nun, es gibt eben offensichtlich auch einfachere Methoden, sein Geld zu verdienen.«

Das ja! Man kennt die Situation. IT-Experten werden nach Indien abgeschoben, während internationale Unternehmen händeringend nach jungen Geisteswissenschaftlern Ausschau halten. »Helft uns«, rufen die Politiker, »wir wissen nicht, ob unsere Abschiebepraxis ethisch korrekt ist! Wir brauchen mehr »philosophical advisors«, schmeißt die Systemadministratoren raus!« Junge europäische Programmierer sind darauf angewiesen, in indischen Schuhfabriken zu arbeiten, um sich ihre Umschulung zum Magister Artium finanzieren zu können. Um die Ausgaben für Qualifizierungsmaßnahmen dieser Art nicht ins Uferlose schießen zu lassen, wurden Gerbereien eingerichtet, in denen die Programmierer ohne Atemschutzmasken neben Fässern mit Chemikalien stehen, die in Europa bereits seit den 70er Jahren verboten sind. Touristen berichten übereinstimmend, dass die unter solchen Bedingungen arbeitenden Hochschulabgänger einen Glanz von Glück in den Augen trügen, wie er in Europa bereits seit den 70er Jahren verboten ist. Der Wunsch nach Rückkehr in einen von Traurigkeit gezeichneten Kontinent wird den jungen Arbeitern auf diese Weise Stück für Stück ausgegerbt und die Firma »Deichmann« erhielt für die Unterstützung des Verfahrens das große Bundesverdienstkreuz.

Doch halt! Vielleicht überschätze ich den Bedarf meiner Leser an sachlichen gesellschaftspolitischen Fakten, so wie das Uniradio zugegebenermaßen meinen eigenen Bedarf an wissenschaftlichen Methoden nachts zwischen 22 und 24 Uhr einigermaßen überschätzt hat.

Weiß ich denn, zu welchen Unzeiten diese Zeilen ins Blickfeld stark beanspruchter Menschen geraten, die vielleicht gerade von einer Umschulung nach Hause kommen? Möglicherweise ist es in deren Zeitrechnung gerade Mittwochs zwischen 22 und 24 Uhr, und da gäbe es nun bei Gott Wichtigeres zu tun. Andererseits möchte ich nichts mehr über Radios schreiben, weil sich »Radio« genauso anhört wie »Auto«, und »Auto« hört sich an, wie eine Mutter, die mit einem Kleinkind ein Bilderbuch anschaut. »Und was ist DAS?« »Au-too!«

Deshalb schreibe ich nicht Auto, sondern Golf. Natürlich ist dies nicht als Stigmatisierung der Golffahrer gemeint. Stigmatisierung von Menschen, die bestimmte Marken benutzen, ist doof. Ich betone das ausdrücklich, weil Golffahrer das möglicherweise nicht verstehen. Wenn ich statt vom Radio in ihrem Auto von der Anlage in ihrem Wagen spreche, verwechseln sie das vielleicht mit der Freisprechanlage. Das habe ich nicht geschrieben, um den Aufsatz zu beenden, wenn ich ganz unten angekommen bin, sondern um noch einmal zum Thema Radio überzuleiten. Ich besitze ein Fremdwörterbuch von 1893 (Untertitel: Handbuch zum Verstehen und Vermeiden der in unserer Sprache gebräuchlichen fremden Ausdrücke), in dem »Radio« nicht drin steht. Ist das nicht ohrenbetäubend? Es ist einfach nicht da! Gibt kein Radio! Nichts zwischen »radical« und »radius osculi«, dem Krümmungshalbmesser, außer »radiren«, »Radirpulver«, und Ähnliches. Kein Radio.

Das klingt vielleicht ein bißchen profan für jemanden, der das Buch nicht in der Hand hält. Blättert man jedoch durch die vergilbten Seiten, liest Wörter wie »Chaiselongue« und »Malentendu«, aber kein Radio, obwohl im Hintergrund mindestens drei zu hören sind, so beschleicht den Betrachter der Geist der Geschichte, das Gefühl des Staubkorns im Universum, das große Rad. Man erfährt, dass ein Neuscheffel fünfzig Liter beinhaltet und ich erfahre gerade, dass das Microsoft Rechtschreibprogramm ebenfalls den Neuscheffel kennt, und fürchte, ich habe mich gerade fürchterlich stigmatisiert. Mein Rechtschreibprogramm bekräftigt das, indem es »stigmatisiert« rot unterringelt. Unterringelt ist auch unterringelt. Die Versform lasse ich jetzt weg. Eine Kanne (ein Liter) sind zwei Schoppen. Ein alter Wispel ist fast gleich 13 1/5 Hektoliter oder 26 2/5 Neuscheffel. Aber vielleicht überschätze ich wirklich den Wissensdurst der müden Leser, und verabschiede mich einfach schon von denjenigen, die jetzt gerne schlafen gehen möchten.

Für das zurückbleibende Häufchen ganz Wissensdurstiger sei noch eine Information über Wattestäbchen hinzugefügt. Diese schieben bei ihrem Gebrauch das Ohrenschmalz immer tiefer in den Gehörgang hinein, bis der Schmalzpfropfen am Trommelfell kleben bleibt und der Besitzer des Trommelfells nichts mehr hört. Hören ist aber sehr wichtig! Besonders nachts zwischen 22:00 und 24:00 Uhr!